Deutsche GG 2024: Präzision und Persönlichkeit
- 10. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Artikel von Amanda Wassmer-Bulgin, Co-Founder Wassmer Family Group
Ende August pilgere ich jedes Jahr nach Wiesbaden – zu einem der wichtigsten Termine in meinem Kalender: der VDP Grosses Gewächs (GG) Premiere. Drei Tage lang öffnet sich die gesamte deutsche Spitzenweinlandschaft – flight by flight, Lage für Lage. Der Saal ist still, konzentriert und voller Energie. Sommeliers, Journalisten und Einkäufer aus aller Welt sitzen mit gespitzten Bleistiften und erwartungsvollen Gaumen bereit.
Doch es ist mehr als nur eine Verkostung. Es ist ein Blick in die Seele des deutschen Weins – in seine Orte, seine Böden, seine Menschen. Dieses Jahr stand der Jahrgang 2024 im Rampenlicht, flankiert von einigen 2023ern. Und die Botschaft war klar: 2024 ist ein Jahrgang der Harmonie. Diese Weine drängen sich nicht in den Vordergrund; sie sind selbstbewusst, präzise, leise fesselnd. Sie sprechen mit einer Klarheit, die Terroir greifbar macht – Moselschiefer, der wie Feuerstein klingt, Kalkstein in Rheinhessen, der nach Kreide und Austernschale hallt, Silvaner in Franken, der Kräuter und Stein flüstert.
Für mich als Sommelière ist dieses Tasting die seltene Gelegenheit, einen Schritt zurückzutreten und das große Ganze zu betrachten. Die Fäden zu spüren, die Deutschlands Regionen verbinden – und gleichzeitig ihre Eigenständigkeit zu feiern. Diese Individualität möchte ich hier teilen: die Weine, die mich am meisten bewegt haben, die Winzer, die sie formen.
Ahr – Das nördlichste Pinot-Paradies
Eine der weltweit nördlichsten Pinot-Noir-Regionen, deren Schieferböden Rauch und Würze verleihen.
Meyer-Näkel, Silberberg Spätburgunder
Die steilen Terrassen oberhalb von Ahrweiler speichern die Wärme und geben sie wieder ab – entscheidend für Pinot in dieser extremen Lage. Meike und Dörte Näkel, die das Gut nach der Flut 2021 biologisch weiterführen, zeigen Mut im Weinberg wie im Keller. Ihr Silberberg Pinot ist zart und doch bestimmt: süße rote Früchte, von feiner Röstaromatik gesäumt. Es schmeckt wie Resilienz im Glas – fragil, aber mit einer stillen Kraft darunter.
Baden – Deutschlands Burgund
Deutschlands wärmste Region, deren Kalksteinböden Burgund ähneln, aber mit hellerer Frucht und mehr Frische.
Bernhard Huber, Alte Burg Spätburgunder
Die Alte Burg bei Köndringen ist südwestlich ausgerichtet, die Kalkböden verleihen Pinot sowohl Kraft als auch Definition. Julian Huber arbeitet biologisch mit akribischer Präzision, in Fortführung des Vermächtnisses seines Vaters. Im Glas wirkt die Alte Burg dunkel und ernsthaft: Schwarzkirsche, Gewürze, Erde.
Franken – Die spirituelle Heimat des Silvaners
Franken ist die einzige deutsche Region, in der Silvaner die Hauptrolle spielt – einst berühmt durch den Bocksbeutel, heute als gastronomische Rebsorte.
Max Müller I, Am Lumpen 1655 Silvaner
Am Lumpen 1655 ist ein dramatisches Amphitheater aus Muschelkalk, das tagsüber Sonne tankt und sie nachts speichert. Max Müller I setzt auf Biodiversität – lebendige Böden, Wildblumen –, was sich im Glas widerspiegelt. Dieser Silvaner sprüht vor Energie: „ein zitrischer Knall, wie Limette über Kräuter und Stein.“
Mosel – Steile Hänge, elektrische Weine
Die steilsten Weinberge Europas (bis 70 % Gefälle), auf Schiefer gepflanzt, bringen federleichte Rieslinge mit messerscharfer Säure hervor.
Dr. Loosen, Domprobst Riesling
Domprobst in Graach ist bekannt für Schiefer und Flussbrisen, die Frische und Zug geben. Ernst Loosen, globaler Botschafter des Moselrieslings, arbeitet mit alten Reben in klassischen Lagen. Sein Domprobst ist pure Energie: „würzig, vibrierend, ein Hauch Schiefer, elektrisches Zitrus.“
Nahe – Deutschlands geologisches Mosaik
Keine Region vereint mehr Bodentypen – vulkanisch, Quarz, Schiefer – und schafft Rieslinge voller Tiefe, Salz und Komplexität.
Emrich-Schönleber, Frühlingsplätzchen Riesling
Das Frühlingsplätzchen mit rotem Schiefer und Quarz schenkt Weinen florale Höhe und mineralische Tiefe. Frank und Werner Schönleber arbeiten biologisch, setzen auf Geduld statt Mode. Ihr Riesling zeigt „nahtlose Harmonie – Steinobst, Blüten und Salz, verwoben.“
Pfalz – Sonne trifft Kalkstein
Eine der sonnigsten Regionen Deutschlands, geprägt von Kalkadern und kühlem Waldklima. Rieslinge hier sind fülliger, aber strukturiert.
A. Christmann, Vogelsang Riesling
Vogelsang, reich an Kalkstein, balanciert Reife mit Grip. Steffen Christmann, biodynamischer Pionier und VDP-Präsident, hat Vogelsang zur Modelllage gemacht. Sein Riesling zeigt „reifere Frucht, aber griffig, gelbe Frucht mit kräutriger Frische.“
Rheingau – Das noble Herz des Rieslings
Nur 3 km breit, aber seit Jahrhunderten prägend für den Ruf des Rieslings mit seinen Südhängen zum Rhein.
Peter Jakob Kühn, Berg Schlossberg Riesling
Der Schlossberg gilt als eine der großen Steillagen des Rheingaus. Schiefer und Quarzit geben Struktur und Würze. Die Familie Kühn, seit den 2000ern biodynamisch, arbeitet mit Geduld und Liebe zum Detail. Ihr Riesling startet mit „mineralischem Lift, alles Schiefer und Kräuter, bevor Zitrus und Steinfrucht sich entfalten.“

Rheinhessen – Vom Massenwein zur Benchmark
Deutschlands grösstes Anbaugebiet, einst Synonym für billigen Liebfraumilch, heute Heimat einiger der besten kalkgeprägten Rieslinge.
Wittmann, Morstein Riesling
Morstein, das Kalkstein-Schwergewicht in Westhofen, bringt Weine von enormer Tiefe hervor. Philipp Wittmann, seit 2004 biodynamisch, hat ihn zur Benchmark gemacht. Sein Riesling schreit Terroir: „zerstoßene Austernschalen und Kreide springen aus dem Glas; Zitrus und Kräuter durchziehen einen dichten, vibrierenden Gaumen.“
Württemberg – Das Land des Lembergers
Eine Hochburg für Rotwein, bekannt für Trollinger und Lemberger (Blaufränkisch), mit würzig-strukturierten Weinen.
Dautel, Forstberg Lemberger
Die Keuper-Mergelböden des Forstbergs geben Würze und mineralischen Grip. Die Familie Dautel glaubt seit jeher an das Potenzial des Lembergers und behandelt ihn wie Pinot. Der Wein ist dunkel und würzig, mit pfeffriger Schärfe und festen Tanninen.
Schlussgedanke
Die Verkostung der neuen Grossen Gewächse ist wie das Öffnen einer Zeitkapsel – Wetter, Böden, Geduld der Winzer, alles verdichtet sich im Glas. Der Jahrgang 2024 besticht durch Balance: reif, aber nicht schwer, präzise, aber nicht streng. Weine, die früh Freude machen, aber das Rückgrat besitzen, würdevoll zu reifen – ein Jahrgang, den Sommeliers selbst jung mit Zuversicht einschenken können. Die selektiv präsentierten 2023er dagegen zeigen mehr Konzentration und dunklere Frucht, geprägt von einem wärmeren, trockeneren Jahr. Sie wirken fester, dichter, manchmal auch nachdenklicher – Weine, die Zeit brauchen, um sich zu entfalten.





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